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Ein Winteralbtraum

Warum die Corona-Krise erst im Herbst und Winter gruselig wird

Maren Zaidan, 16. August 2020 18:05 Uhr

Weihnachten in der Corona-Krise

Die Insolvenzantragspflicht entfällt nur noch bis zum 30. September. Die Innenstädte und Einkaufszentren werden bereits in den letzten Wochen etwas geisterhafter. Die Auftragslage ist schlecht. Im Moment scheint noch die Sonne. Die Gemüter genießen die letzten Tage des Sommers mit einer kühlen Limo und beschäftigen sich mit der Frage, wie die Hitze zu ertragen ist. Der Herbst kommt bald, nicht nur im meteorologischen Sinn.

Mit Insolvenzen kommt auch die Arbeitslosigkeit. Mit der Arbeitslosigkeit kommen Existenz- und Zukunftsängste. Probleme verursachen Gereiztheit und Streitereien. Die Krise, wie man hier und da beobachten kann, hat bereits Ehen, Partnerschaften und Freundschaften gekostet. Im Herbst und Winter werden die Tage kürzer. Es wird kälter, regnerisch und dunkel. Es ist immer die Zeit der saisonal-affektiven Störung. Es ist die Zeit, in der wir Weihnachten feiern und damit auch die Zeit, in der jedes Jahr Beziehungen aufgrund des Stresses mit der Weihnachtsgans zerbrechen und Selbstmordgedanken aufgrund von Einsamkeit zunehmen.

Im Moment wird von ansteigenden Zahlen der Corona-Erkrankten gesprochen. In der Politik wird diskutiert, welche Maßnahmen nun zu ergreifen sind. Ein weiterer Lock-down? Bestimmte Infektionscluster beobachten und verhindern, also Situationen in denen Menschen zusammenkommen und sich vermehrt anstecken? Ein Kontakttagebuch? Eine länger anhaltende Maskenpflicht?

Auch zu Ostern und im Sommer haben wir die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen gespürt. Einsamkeit, weil das normale Sozialleben nicht mehr gegeben ist. Kommunikationseinschränkungen, weil ein großer Teil der Mimik nicht mehr gegeben ist, abgesehen davon, dass wir viel öfter nachfragen müssen, weil kaum einer mit Maske so gut zu verstehen ist, wie ohne. Ein eingeschränktes Verständnis für einander aus demselben Grund. Entfremdung von der eigenen Familie und den Freunden, weil es schwerer geworden ist, sich zu sehen. Die Gefahren für Opfer von häuslicher Gewalt und die Gefahr für Kinder, die zuhause vernachlässigt, missbraucht werden oder anderen Formen von Gewalt erliegen. Erkrankte Menschen, die sich nicht getrauen, Hilfe für ernsthafte Erkrankungen zu suchen, da sie Angst vor einer Korona-Infektion haben.

Doch die kühlen Jahreszeiten haben Einfluss. Wer davon redet, dass wir es uns dann mit einer Tasse Kakao und einer Kerze gemütlich machen, ist ignorant. Wenn es nicht richtig hell und freundlich wird, die Regentropfen gegen die Fensterscheiben trommeln und die alten Kontakte weiter weg als je zuvor scheinen, wird es für viele beklemmend. Wenn man dazu rechnet, dass viele der Menschen, die diese Gefühle haben werden, nicht nur den Halt bei Familie und Freunden in diesem Jahr verloren haben, sondern auch ernsthafte finanzielle Sorgen haben, wird es beängstigend. Das Problem mit Arbeitslosigkeit und Einsamkeit ist nicht nur das Geld oder das Alleinsein. Menschen wollen gebraucht werden und sich nützlich fühlen. Wer das Gefühl bekommt, für nichts mehr da sein zu können, weder für Menschen noch für Aufgaben, fühlt sich miserabel. Jeder braucht eine Aufgabe.

Bereits im Frühjahr hörte man von der Ironie der heutigen Zeit: Eine Gesellschaft, in der es inzwischen fast zum guten Ton gehört, mit der Familie auf Abstand zu gehen und ernsthafte Beziehungen abzulehnen. Plötzlich fiel vielen der eigene Lebensstil auf die Füße. Der alte Life-Style hat im Jahr 2020 nicht mehr funktioniert. Es wurde ziemlich einsam und langweilig.

Licht ist wichtig für unser Immunsystem und auch für unsere Psyche. Genug Menschen versorgen sich im Winter zusätzlich zur in Mitteleuropa glücklicherweise vorhandenen Wintersonne mit Tageslichtlampen und Vitamin D. Bei all der vorhandenen Angst vor Ansteckungen und den Warnungen stellt sich bei manchen Menschen die Frage, wie oft sie noch vor die Tür gehen, um Sonne abzubekommen. Woher kommt bei einer Person mit echten finanziellen Problemen das Geld für Tageslichtlampen und Vitamin D? Depression führt oft zu noch mehr Rückzug aus dem Sozialleben. Ein neuer Teufelskreis beginnt.

Da sehr viele Menschen von Sorgen geplagt sind, kann man einerseits auf gegenseitiges Verständnis und Solidarität hoffen, andererseits kann man sich sorgen, ob selbst gequälte Menschen nicht auch öfter mit sich selbst genug beschäftigt sind und übersehen, was mit dem nächsten passiert.

Was gibt uns in der kalten Jahreszeit viel Freude? Ist es nicht in vielen Fällen das Treffen mit Familie und Freunden, um Weihnachten und den Jahreswechsel vorzubereiten? Oder sind es nicht auch gemeinsame Aktivitäten in Innenräumen? Fällt uns nicht allen an endlosen Wintertagen die Decke auf den Kopf, wenn wir zu viel allein drin sind? Der Karnevalsbeginn wird gerade Corona-Sicher gemacht, viele Weihnachtsmärkte sind bereits abgesagt. Familien fragen sich, ob sie an Weihnachten die Grenzen ihres Bundeslandes oder Staates noch verlassen können, um zum anderen Teil der Familie zu gelangen.

Ich finde es sollte gut überlegt werden, welche Maßnahmen wie in der Winterzeit umgesetzt werden. Es wird gerade zum Schutz von Menschen mit dem Immunsystem, sozialen Netz und der Psyche der Menschen gespielt. Wer hat Lust auf ein Weihnachtsfest, an dem aus dem Plattenspieler Lieder über Familien erklingen, aber die eigene Familie ungewollt unerreichbar ist? Wer möchte sich an Halloween über mehr als gruselige Kostüme und ausgehöhlte Kürbisse erschrecken?

Egal welche Meinung man über die Maßnahmen vertritt, egal wie sehr oder wenig man selbst mit den Folgen der Korona-Krise zu kämpfen hat, jetzt und in den nächsten Monaten, ist jeder der noch Kapazität hat, etwas an der Situation besser zu machen, ein Auge auf andere zu haben oder zu helfen, gefragt. Wir müssen wieder sozial werden und nicht nur davon sprechen.


Maren Zaidan
Bundesvorsitzende der Partei DIE FĂ–DERALEN
Essen, den 16.08.2020