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Immer wieder Thüringen

Wird hier unsere Demokratie verteidigt?

Stefan Brackmann und Maren Zaidan, 29. Juni 2023 10:00 Uhr

Alles Gute beseite, in Thüringen werden die Probleme Deutschlands laut.

Der Versuch einer Bestandsaufnahme.

Hand aufs Herz, wer hat nicht schon einmal etwas angestellt, was man später bereut? Man hat einen Fehler gemacht und versucht, ihn lange zu verheimlichen oder sogar zu vertuschen. Doch irgendwann kommt es ans Tageslicht, irgendwann kommt die Abrechnung und die Realität holt einen ein.

Ähnlich gestaltet sich aktuell die Situation in Thüringen.
Was ist hier geschehen? In Deutschland hat sich in den letzten Jahren eine politische Vorgehensweise eingestellt, die Viele in unserem Land zum Nachdenken anregt. Es wurden Maßnahmen erlassen, die unsere Grundwerte tangierten, die Wissenschaft wurde auf einen falschen Thron gehoben und Politiker wurden gewählt, die dem klassischen Bild eines Repräsentanten nicht annähernd entsprachen.

Einige wenige Stimmen waren skeptisch, gingen einen anderen Weg und wurden zunächst einmal belächelt, dann wurden Hohn und Spott über sie ausgekehrt und insbesondere einer Gruppe auch die Daseinsberechtigung in Abrede gestellt.

Diese Abhandlung befasst sich nicht mit den politischen Inhalten, sondern den demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien, wurden diese doch in dieser Zeit nicht nur gebeugt, sondern in vielen Fällen regelrecht missachtet.
Jetzt gibt es also, wie gesagt, eine Anzahl an kritischen Zeitgenossen, deren Großteil sich einer Partei zugehörig fühlt. Und viele andere, die diese Kritik auch verspüren und sich von ihren angestammten Vertretern nicht oder nicht ausreichend ernst genommen fühlen.

Statt sich nun dieser Klientel anzunehmen, wurde deren Kritik verleugnet, abgetan und in der Spitze sogar kriminalisiert. Die Themen wurden missachtet und teilweise mit verbalen Attacken von hochkarätigen Apologeten der Politik, der Medien und des öffentlichen Lebens überschüttet.

Das war nicht das einzige Ereignis, welches Deutschland gespalten hat. Es gab noch andere Themen in den letzten Jahren, bei denen sich die Fronten verhärteten. In einer Demokratie kann am Ende immer nur eine Auffassung durchgesetzt werden oder zumindest ein Kompromiss. Dass sich manchmal die durchgesetzte Meinung als problematisch herausstellt, gehört auch dazu. Doch es sollte allen Seiten die Möglichkeit gelassen werden, ihre Meinung zu äußern und Schubladendenken verhindert werden. Somit sammelte sich ein Becken von Menschen an, die sich bei einem oder mehreren Themen diskriminiert, im Stich gelassen oder ignoriert gefühlt haben. Die Unzufriedenheit wächst und leider schweißt in vielen Fällen genau dieser Frust zusammen.

Die Kritik wurde also kleingeredet, geleugnet und gebrandmarkt. Im öffentlichen Diskurs fand eine Auseinandersetzung nicht statt. Selbst die Statistiker kommen zu diesem Ergebnis. Sogar die TAZ konnte nicht umhin, einzugestehen, dass die führende, kritische Partei im öffentlichen Raum (hier: Talkshows) so gut wie nicht vorkam. Dies wurde natürlich im Text weder erwähnt noch sind die Zahlen in Relation gesetzt. Fakt war, dass im Jahr 2022 nur 2 von 457 Talkshowgästen der AfD zuzuordnen waren, also 0,4 %! Dies entsprach nicht im weitesten dem aktuellen Sitzungsverhältnis im Bundestag, von den immer weiter steigenden Zahlen bei der sogenannten Sonntagsfrage ganz zu schweigen.
Ein Schelm, wer böses dabei denkt.

Parallel dazu wird immer weiter versucht, diese Partei als verfassungsfeindlich darzustellen. Ob nun der neue Passus der verfassungsschutzrelevanten Delegitimation des Staates zu diesem Zweck eingeführt wurde, ist durchaus auch zu erwähnen und ein weiterer Baustein in diesem perfiden Spiel. Nur hat sich niemand getraut, dieses auch tatsächlich umzusetzen und ein Verbot auszusprechen. Vielleicht fehlten einfach nur die Voraussetzungen? Daher steht dieser Partei jede demokratische Möglichkeit zu. Auch wir sprechen uns gegen verfassungsfeinliche und demokratiefeindliche Aktivitäten aus und haben dies immer getan. Gewisse Flügel dieser Partei sind problematisch, aber dies trifft genauso auf eine andere Partei zu, deren Existenz viel weniger in Frage gestellt wird.

Also, was bewirken Nichtbeachtung, weitere Eingriffe in persönliche Eigentumsrechte durch weiter unüberlegte und übers Knie gebrochene Maßnahmen. Richtig, der Druck auf den Kessel steigt. Immer mehr Menschen in diesem Land fühlen sich nicht mehr wohl. Es wird über sie geredet statt mit ihnen. Sie suchen einen Ausweg und der liegt dann auf der Hand. Die Umfragewerte steigen also, im gleichen Maß aber auch die öffentliche Distanzierung und Verleugnung der Probleme.

Das alles muss sich irgendwann entladen. Die Realitätsverweigerung der aktuell handelnden Personen und deren unausgegorenen Entscheidungen können nicht langfristig ohne eine Bestrafung davonkommen.

Nun lag es wieder einmal in der Hand von Thüringen, hier den Vorreiter zu spielen. Ein erster Versuch Anfang 2020 wurde seitens oder besser durch Eingreifen der Bundeskanzlerin noch abgewiegelt. Ihre seinerzeit getroffenen Äußerungen wurden sogar vor einem Jahr gerichtlich beanstandet.

Diesmal ist es auf einer Landratsswahl passiert, was nicht passieren durfte. In Sonneberg gewann der AfD-Vertreter in der Stichwahl, obwohl sich alle anderen politischen Lager dagegen gestemmt haben.

Und nun haben wir ihn, den Realitätsschock. Alles Verdrängen, Anklagen und Verunglimpfen hat nichts geholfen.
Wichtige Fragen sind nicht nur zu stellen, sondern auch zu beantworten.
Wie konnte das passieren? Was sind die wirklichen, richtigen Ursachen? Was müsste passieren, geändert werden, um andere Ergebnisse zu erzielen? Was wäre, wenn viele kritische Stimmen in der Vergangenheit ernst genommen worden wären?

Typischerweise war es wieder im sächsischen Thüringen. Sächsisches Thüringen? Ja, denn während Ostdeutschland als dumm, ungebildet und rechts abgestempelt wird, begehen viele Medien und Kritiker wieder den Fehler aus allen Ostdeutschen Bundesländern Sachsen zu machen. Bei den alten Bundesländern wäre dies eine Blamage oder Frechheit, in dem Fall ist es doch egal. So baut sich der Frust nicht ab, sondern man sorgt für immer mehr Wut gegen diesen Staat. Gleichzeitig läuft durch mehrere in den letzten Monaten erschienen Bücher über das Thema Ost-West eine Debatte, wie es anders gehen kann. Doch in Realität scheint das immer noch schwer zu sein. Auch hier zeigen sich wieder Lücken im Bildungssystem. Der Glaubenssatz, Kopfrechnen ist wichtig, führt zu anderen Ergebnissen wie der Glaubenssatz, es würde keine Rolle mehr spielen. Dasselbe passiert mit der Geographie des Landes.

Und wer ist überhaupt der rechte, ostdeutsche Wähler in Sonneberg? Nach über 30 Jahren hat sich das Land vermischt. Es wurde in jede Himmelsrichtung gezogen, es gibt alle Beziehungskonstellationen untereinander und gesamtdeutsch geborene Erwachsene. Durch die mediale Darstellung gab es eine politische Verschiebung. Nicht alles was in Thüringen rechts wählt oder tickt, entspricht dem Medienbild von ostdeutsch! Wir können das damit das nächste Problem aufgreifen: Deutschland sortiert die Bürger inzwischen nach der politischen Gesinnung. So bilden sich Extreme. Durch die Extreme verstärken sich Muster und Einstellungen. Gemäßigte Meinungen kommen aber zustande, wenn ich mich immer wieder mit anderen Meinungen auseinandersetze.

Ähnlich, aber auf höherer Ebene, wurde nun ein Bündnis gegen die AfD angekündigt. Die Grünen sollen als Hauptfeind dienen. Zu was führt das? Alle, bis auf eine große Partei, werden zu einem Einheitsbrei, um das genaue Gegenteil zu sein. Die Bürger müssen sich nun also entscheiden. A oder B? Jeder, der sich missverstanden fühlt, geht dann wahrscheinlich aus Protest noch mehr den anderen Weg. Vielleicht fänden mehr Leute eine Partei zum wählen, wenn es nicht nur schwarz oder weiß gäbe, sondern alle Farben des Regenbogens und Thema 1 nichts mit Thema 2 für ein paar Parteien zu tun hätte. Kleine Kompromisse sind leichter zu machen als große.

Wie oben bereits erwähnt, hat Deutschland Mittel, um die Demokratie zu schützen. Durch diese Mittel war der zukünftige Landrat bereits gelistet und den entsprechenden Stellen bekannt. Man hat aber scheinbar nichts getan, um eine solche Wahl zu verhindern. Stattdessen sucht man nun nach der Wahl eine Lösung, um die Demokratie zu umgehen, statt sie zu stärken. Mit dem Ergebnis, dass das Misstrauen in die Wahlen steigt. Deine Stimme zählt also nur, wenn es die richtige war? Und wer aus der breiten Bevölkerung bekommt etwas von diesen Mitteln und deren Ergebnissen mit? Nachrichtenüberblicke zeigen jedem inzwischen das an, was seinen Interessen entspricht. Wenn ich mich also nicht für diese Mittel interessiere, erfahre ich auch nichts darüber. Ich muss erst etwas darüber wissen, um etwas davon zu lernen.

Unserer Auffassung nach sollten die Medien zwischen Politik und Volk vermitteln. Journalisten berichten und sind ein Teil der Bevölkerung. Die Regierung selbst vertritt die Bevölkerung nur. Warum urteilen die Politiker und die Medien über Teile der Bevölkerung und verurteilen sie? Sollte man nicht spätestens jetzt überlegen, warum nicht alles so läuft, wie man es möchte? Sollte man diese Fragen nicht stellen, ohne voreingenommen abzustempeln? Hätte man die seit Jahren immer wieder geäußerten Wünsche und Ängste nicht lieber ernst nehmen sollen? Manche Ängste sind irrational. Es bringt aber weder bei den Einzelnen noch bei einer Gruppe etwas, irrationale Ängste zu ignorieren. Warum beleidigt man stattdessen? Wer glaubt, man würde eher wieder gewählt werden, wenn man die Wähler beleidigt? In der Regel mag man Menschen mehr, die einen selbst mögen und akzeptieren.

Die letzte Regierung unterstellte den Ostdeutschen oft eine fehlende politische Bildung. Zunächst möchten wir anmerken, dass die politische Bildung in Westdeutschland genauso zu denken gibt. Dabei hilft auch eine Generation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen nichts, die gelernt haben, welche Meinung gut ist und wen sie mit allen Mitteln angreifen müssen ohne selbst nachzudenken. Doch sind nicht auch die Regierungen und Medien für die Bildung verantwortlich? Wenn wir uns darauf einigen, dass es überall Bildungsdefizite gibt und die Menschen teilweise selbst eingestehen, dass es ihnen an Wissen fehlt, um politische Akteure einzuordnen, bleibt die Frage bestehen, aber ist es wirklich (nur) die fehlende Bildung? Wie kann Sachsen dann gut in deutschen Bildungsvergleichen abschneiden und gleichzeitig als ungebildet zählen? Vielleicht ist es einfach nur Protest und Verzweiflung. Vielleicht fühlen sich Teile der Bevölkerung nicht mehr ernst genommen und wollen die Parteien aufwecken.

So provozieren manche Medien auch mit der Unterstellung, die Wähler hätten dieses Ergebnis nicht gewollt. Die Wähler, die so nicht gewählt haben, haben es nicht gewollt. Das ist jedoch immer so. Ansonsten findet hier die nächste Unterstellung statt. Demokratie bedeutet, Entscheidungen anzunehmen, sie ernstzunehmen und mit ihnen umzugehen. Es wäre kindisch, den Prüfer nach einer vergeigten Prüfung zu bitten, ein Auge zuzudrücken. Für Einzelpersonen ist es immer wichtig für das weitere Verhalten, wie man die Situation einordnet. Habe ich die Prüfung verhauen, weil ich zu wenig dafür gelernt habe oder war die Prüfung unfair? Mache ich es mir mit meiner Erklärung zu einfach oder nimmt mir meine Erklärung zu Unrecht das eigene Selbstvertrauen? War ich vielleicht einfach zu sehr überzeugt, es auch ohne große Mühe zu schaffen? Auch hier ist wieder die heutige Debattenkultur und Filterblase entscheidend. Wenn ich nur noch mit Gleichgesinnten rede, weiß ich nicht mehr, was die anderen wollen und erreiche eventuell immer weniger Menschen. Wenn ich dazu noch alle verurteile, die nicht genau meine Ansichten vertreten, bin ich fast selbst nicht mehr akzeptabel.

Doch genau diese Dinge sind geschehen. Die Politik hat sich in der letzten Zeit so weit von der Realität und den Wählern entfernt, dass es nun nicht nur in der Schule Zeit für die Zeugnisse wurde. Das Ergebnis sieht nicht gut aus und ist nach langem Verdrängen ein Schock. Es zerstört die Pläne und scheinbar gab es nie einen Plan B. Aber anstatt sich seines eigenen Versäumnisses bewusst zu werden, wird mit dem Finger auf andere gezeigt. Wäre es zu schmerzhaft, auch an sich selbst zu arbeiten?

Abschließend kann man sagen, dieses Wahlergebnis gibt viele Hausaufgaben für alle in diesem Land auf. Hier geht es um Bildung und Aufklärung, Partei- und Medienarbeit, Ernst nehmen der Bevölkerung, Vorurteile und zugleich nicht gern gesehene Konsequenzen. Für uns, DIE FÖDERALEN heißt dieses Ergebnis, weiter in jedem Punkt einzeln abzuwägen, für was wir stehen wollen und hinzusehen, warum manche Mitbürger auch Dinge wollen, die wir selbst schwer verstehen können.


Stefan Brackmann und Maren Zaidan
die Bundesvorsitzenden
DIE FÖDERALEN



Quellen:
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/ranking-der-talkshowgaste-2022-norbert-rottgen-lost-karl-lauterbach-ab-9051226.html
https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/irre-ins-parlament-sonneberg-will-nicht-das-versuchskaninchen-fuer-die-afd-sein-li.362116