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Amnesie

Wo sind alle Ziele der letzten Jahrzehnte hin?

Maren Zaidan, 31. Oktober 2020 14:17 Uhr

Die heile alte Welt ist vergessen.

Wir schreiben das Jahr 2020. Social Distancing wird überall empfohlen. Notwendige Behandlungen werden verschoben. Bildungseinrichtungen gehen auf Sparflamme. Die Lufthansa erfindet den Winterschlaf für Unternehmen. Arbeitslosigkeit ist eine Chance, denn die Wirtschaft wird zerstört. Insolvenzen sind nicht zu melden. Kinder aus armen oder fragwürdigen Verhältnissen werden vergessen. Menschen mit psychischen Problemen müssen allein klarkommen. Kinder sind eine Gefahr und werden in Verdachtsfällen isoliert. Großeltern sollte man am besten niemals besuchen. Kultureinrichtungen und Kulturevents sind eine tickende Zeitbombe. Datenschutz ist etwas schlimmes, gute Menschen geben alles preis. Bürger anderer (Bundes)-Länder sind ansteckend und sollten gemieden werden. Im Fernsehen wird offen zugegeben, dass die Politiker das Grundgesetz missachten. Ich könnte immer so weiterschreiben. Es hört nicht auf. Ich lese die Nachrichten und kann mich vor Lachen nicht mehr halten. Nein, ich freue mich nicht, es ist ein bitteres sarkastisches Lachen.

Bis 2019 habe ich in einem Staat gelebt, in dem es unbestreitbar verbesserungswürdige Dinge gab. Im Grunde genommen hatte dieser Staat mir jedoch, mit all seinen Vergleichen zu früheren Zeiten gelernt, wie wichtig Demokratie ist. Die Bildungseinrichtungen haben mir beigebracht selbstständig zu denken, das Geschehen kritisch zu beäugen und mir gegebenenfalls selbst Wissen anzueignen. Wissen war Macht und so verschlang ich alles an Wissen, was ich irgendwo aufschnappen konnte. Heute wird man für Wissen schräg beäugt. Als vertrauenswürdig gebildet zählen in diesem Land nur noch wenige auserwählte Damen und Herren. Leider war es schon länger so, dass selbst einige Akademiker der Meinung waren, sich selbst weiterbilden ist seltsam, aber grundsätzliches Wissen über Biologie und Medizin war nichts Wunderliches. Heute ist es das. Ein Arzt darf allen anderen Ärzten die Kompetenz absprechen und fast keinen wundert es. Unser Grundgesetz wird mit Füssen getreten und alle, die versuchen es zu schützen gelten plötzlich als politisch ungebildet.

Bleiben wir beim Thema Bildung. Wollten wir nicht alles dafür tun den Lehrermangel zu beseitigen, weniger Fehlstunden an Schulen zu haben, in den Pisa-Studien endlich nicht mehr Beschämens wert abschneiden und am besten jede Schule zur Ganztagsschule machen, damit kein Kind auf der Strecke bleibt? Gab es nicht Projekte, um benachteiligten Kindern eine Schulspeisung und Nachhilfe oder einfach die Aufmerksamkeit, die zum Lesen lernen nötig ist, zu bieten? Was ist aus den Ansätzen geworden, Kinder empathischer durch gewisse Gruppenübungen zu machen, um das Klassenklima und den allgemeinen Umgang miteinander im Leben zu verbessern? Heute wird alles getan, um die Konzentrationsfähigkeit zu senken und den Schülern möglichst viele Steine in den Weg zu legen. Schulschließungen sind heute das Hitzefrei für übermotivierte Politiker. Soziale Kompetenz ist vergessen, denn wie wollen Kinder diese verbessern, wenn sie Abstand halten müssen. Und selbst in der Berufsausbildung, egal in welcher Form und zu welchem Grad, ist Präsenzunterricht und Gemeinschaft immer wichtig gewesen. Heute kann alles online ersetzt werden. Das es manchmal einfacher ist das Übungsblatt zu verstehen, wenn der Mitleidende auf dem Blatt rumkritzelt, daran denkt niemand mehr.

Edward Snowden hat die Welt fĂĽr Jahre verschreckt. Wir haben ein Gesetz nach dem anderen geschaffen, um unsere Daten zu schĂĽtzen. Die BĂĽrger wurden ĂĽber Verhaltensmuster, Algorithmen und vieles anderes unterrichtet. Heute geben wir all das auf. Wir schĂĽtzen uns vor einem Virus und falls wir ihn nicht ĂĽberleben, ist es scheinbar eh egal gewesen, ob die ganze Welt, der Staat oder die lieben GroĂźkonzerne alles ĂĽber uns wissen. In Zeiten von Social Distancing vielleicht eine Art damit klar zu kommen, dass unsere Liebsten uns schon fast vergessen haben.

Deutschland hat seit Jahrzehnten ein Problem damit, Familien und Kinder sinnvoll zu fördern. Bisher wurde der Schutz von Minderjährigen jedoch hochgehalten. Im Jahr 2020 wird nicht nur weggeschaut, in diesem Jahr wird von den Ämtern befohlen, Kinder zu vernachlässigen, Kinder in Isolation zu stecken, Kinder den Vertrauenspersonen außerhalb des Elternhauses zu entziehen. Früher wurden Jugendliche gezwungen die Großeltern doch ab und zu zu besuchen, heute wird empfohlen, auch das sein zu lassen.

Und wenn wir bei den Großeltern sind, was haben wir mit den Langzeitstudienergebnissen über positives Altern angestellt? Wurden diese korrigiert? Ich erinnere mich an Empfehlungen, wie angemessene Aufgaben für den jeweiligen Gesundheitszustand, soziale Kontakte, lieber eine Langzeitbeziehung mit regelmäßigen Streitereien als allein zu sein. Seit diesem Jahr schaden wir also nicht nur den Alten, sondern auch den Alten der Zukunft, denn wie sollen Aufgaben altersgerecht eingeteilt werden, wenn die Familie nicht mehr kommt, wie sollen familiäre Beziehungen gesund erhalten bleiben, wie sollen die noch jungen lernen, Beziehungen gesund zu pflegen, wenn Social Distancing die neue Moral ist?

Dieser Artikel wird langsam viel zu lang für eine Generation, der schon längst die Aufmerksamkeitsspanne auf ein Minimum reduziert wurde. Dieser Artikel wird zu lang für eine Gesellschaft, in der Menschen gerade zu Hause sitzen und Existenzängste haben, da wir unsere Wirtschaft und damit ihre Firmen und Arbeitsplätze opfern, ohne an die Einzelschicksale zu denken. Dieser Artikel wird auch zu lang, die Angst um ihr Leben haben, Angst, die ihnen so stark eingeredet wurde, dass sie nicht mehr selbst nachprüfen und denken können.

Es wird Zeit an das zu denken für was wir in den letzten Jahrzehnten gelebt haben. Ein Shutdown und ein Lockdown sind keine Chance zum Entschleunigen. Menschen mit Angst können nicht entschleunigen. Der verlorene Arbeitsplatz bereitet negativen Stress. Fehlende Bildung ist ein Zeichen für Aussichtslosigkeit und bereitet negativen Stress. Einsamkeit macht depressiv. Wir müssen für jeden Einzelnen etwas tun, um all das zu beenden.


Maren Zaidan
Bundesvorsitzende
DIE FĂ–DERALEN